Täglich bekommen wir Terabytes an Informationen. Was heute Gültigkeit hat, ist morgen obsolet. Entscheiden ist Chefsache. Alleine zu entscheiden, ist beinahe eine Art Karakiri. Aber welche Rolle nimmt die Militärlogistik im heutigen Umfeld ein – die der Spinne oder die des unauffälligen Seesterns? Die Fähigkeit, resilient und antifragil zu sein, ist das Erfolgsrezept. Führungskräfte, die nicht aus der Komfortzone hinausgehen, sind blind und gefährlich. Nehmen Sie sich Zeit, darüber nachzudenken…
Was wir unbedingt brauchen, ist eine gemeinsame Sprache, nämlich eine Auslegeordnung der drei Begriffe VUCA-Welt, Spinne/Seestern und Logistik. Die Welt sowie unser Dasein sind ständig in Marschbereitschaft. Das Ziel (oder die Richtung) ist meistens „unbekannt“. Selbst wenn es bekannt ist, kann es sich plötzlich ändern. Erstaunlich ist nur, dass die meisten Organisationen und die dazugehörigen Menschen diesen Veränderungszwang nicht verstehen oder wahrnehmen (wollen). Es gibt und wird immer Organisation und Leute geben, die ihre Komfortzone nur unter Zwang verlassen. Das kann zum Untergang der Organisationen, die die Anzeichen der Zukunft nicht richtig interpretieren, führen. Eine eher destabilisierende Aussage kommt von Charles und Jayne May in „In the VUCA World flexibility is far more necessary than control“. Vorab ein wichtiger Punkt: Das Militär hat alle Mittel, um in dieser Welt bestehen zu können (Stichwort Führungsprozesse)! Die Herausforderung besteht darin, die Flexibilität der Vorgesetzten zu schulen. Das Reglement FSO 50.040, Ziffer 5 beschreibt, dass „Auftrag, Lage, Führungsstufe und Kommandant bestimmen, wie das in diesem Reglement Beschriebene situationsbezogen anzuwenden ist.
Die VUCA-Welt ist real. Nur blinde Führungskräfte sehen das nicht!
Wenn wir uns nicht blind durch unsere zahlreichen Informationen (teilweise Müllinformationen) bewegen, stellen wir fest, dass unsere Zukunft durch vier Mega-Trends geprägt ist. Erstens sind das die Mega-Citys, womit die zunehmende Urbanisierung, die Konzentration der Bevölkerung und die Vertikalisierung unserer urbanen Gebiete gemeint sind. Zweitens ist es die Demographie mit der Alterung der Bevölkerung, drittens die Globalisierung der Gesellschaft und die Technologisierung (auch Industrie 4.0), welche die Arbeitswelt dramatisch verändern, z.B. durch Ersetzen der Menschen durch Roboter und die Schaffung neuer Jobs. „Einfache Arbeiten an Maschinen, wie Drehen oder Fräsen, können bald komplett von Robotern durchgeführt werden“ (20 Minuten). „80 Prozent der Jobs an Maschinen werden laut einer deutschen Studie dadurch wegfallen“ (20 Minuten). Viertens ist es die Rolle der Menschen-Generation. Das Zusammenwirken der verschiedenen Generationen (Baby-Bommer, Generation X, Y und neu Z) kann zu Problemen führen, wenn die Führungskräfte abgeneigt sind, sich um die verschiedenen Bedürfnisse und Erwartungen zu kümmern. Eine Vertiefung in Bezug auf die Bedeutung der Generationen ist für alle Führungskräfte unerlässlich und empfehlenswert. Die Führung muss den Eigenschaften der verschiedenen Generationen Rechnung tragen.
Der VUCA-Begriff stammt aus den USA der 1990er Jahre und wurde vorerst vom Militär verwendet. Später wurde der Begriff von der Wirtschaft adaptiert. Erst in den letzten Jahren wird er in der Schweiz im militärischen Kontext verwendet.
VUCA ist ein Akronym für: volatile (unberechenbar), uncertain (unsicher), complex (komplex) und ambiguous (viel-, doppel-, mehrdeutig, unklar).
- Unberechenbar: z.B. die ständigen Reorganisationen und die fortwährende Wirtschaftsentwicklung
- Unsicher: z.B. die Sicherheitslage in Europa und die zunehmende Angst (auch in die Schweiz)
- Komplex: Die Vielfältigkeit in der Entscheidungsfindung hat stark zugenommen. Als Konsequenz kann ein Chef heute kaum ohne Einbezug der Mitarbeiter richtig entscheiden.
- Ambiguität: Es gibt keine richtige oder falsche Antwort, denn auch verschiedene Antworten können ein ähnliches Resultat hervorbringen.

Laut Dr. Matthias Hetti haben die Leistungsanforderungen „in allen Bereichen zugenommen […] Die Komplexität ihrer einzelnen Aufgaben und Projekte ist weiter angestiegen und die Kommunikationsschnittstellen haben zugenommen.“
In dieser komplexen Welt sind Organisation und insbesondere die Führungskräfte noch mehr gefordert, „flexibler zu reagieren und sich schneller an veränderte Umstände anzupassen.” Um in dieser komplexen Welt weiterzubestehen, müssen Organisationen und Führungskräfte einiges leisten. Ein Aspekt ist dabei, eine ehrliche und zielführende Vertrauenskultur zu pflegen, und zwar eine Vertrauenskultur, in der jeder Mitarbeiter seine Leistungen zugunsten der ganzen Organisation ausrichtet und Fehler der Organisation dazu dienen, besser zu werden, und nicht den Mitarbeiter zu erniedrigen.

Gefragt sind auch eine ausgeprägte Visionsfähigkeit und eine klare Richtung (keine hochglänzende patinierte Broschüre, sondern Worte und Taten). Visionen müssen täglich gelebt werden. Die Führungskräfte zeichnen sich als wahre Beispiele. Führungskräfte sind nicht fehlerfrei. Sie müssen lernen, den Mitarbeitern aktiv zuzuhören und Empathie zu zeigen. Mitarbeiter sind keine Matrikelnummern, denn jeder Mitarbeiter hat eine individuelle Geschichte. Als ehrliche und fordernde Leader gehen Führungskräfte voran und vermitteln klare Botschaften. Sie sind in der Lage, die Komplexität zugunsten der Mitarbeiter zu reduzieren. Reduzieren soll aber nicht mit Oberflächlichkeit verwechselt werden. Schlussendlich sollte jede Organisation, jede Führungskraft und jeder Mitarbeiter agieren, probieren, Erfahrungen sammeln und auch Fehler machen. Dazu braucht es eine ausgeprägte Vertrauenskultur.
Wir haben festgestellt, dass die VUCA-Welt verschiedene Herausforderung mit sich bringt. Wir haben auch eine mögliche Antwort erhalten, wie man in der modernen volatilen Welt mit Erfolg bestehen kann. Der Mensch braucht aber trotzdem einen sicheren Hafen und/oder Anhaltspunkte. Das sind Voraussetzungen, durch die er sich sicher fühlen und auf die nächste Herausforderung vorbereiten kann.
„Sowohl-als-auch-Prinzip“ – der Spagat zwischen SSEE- und VUCA-Welt
Die Welt, wie wir sie verstehen, ist von unserer 0815-Lebensvorstellung geprägt. In dieser Welt ist alles geregelt. Alle Prozesse sind konsolidiert und jeder weiss, was er zu tun hat. Schauen wir näher hin, stossen wir auf ein weiteres Akronym, die SSEE-Welt.
SSEE steht für stabil, sicher, einfach und eindeutig. Also handelt es sich um die uns altbekannte Welt, eine Welt der klaren Strukturen und Sicherheiten. An den Extremitäten des Systems zu leben, wäre falsch und sehr gefährlich. Was also wichtig ist, ist eine gute Mischung zwischen SSEE- und VUCA-Realität. Von Bedeutung sind somit die Koexistenz und die Integrationsmöglichkeit in beiden Welten.
Spinne und Seestern: Wieviel von den Eigenschaften steckt in uns
Als ich das erste Mal über die Bedeutung der Spinne und des Seesterns[7] (Spider und Starfisch) erfahren habe, war ich irritiert. Was haben eine Spinne und ein Seestern mit Führung und Organisation zu tun? Lassen Sie mich hierzu ein paar Worte investieren. Später werden Sie auch merken, welche Wechselbeziehung mit der Militärlogistik entsteht.
Bildlich gesehen, können wir uns Folgendes vorstellen: Wir nehmen eine Spinne und amputieren ihr ein Bein. Sehr wahrscheinlich wird sie uns dafür nicht lieben. Sie wird Schmerzen haben (kann ich mir vorstellen), aber weitermarschieren (eher langsamer). Also wird sie keine 100%ige Leistung erbringen können. Unser Experiment geht weiter. Nun enthaupten wir sie. Was passiert? Klar, sie erbringt gar keine Leistung mehr. Nun nehmen wir einen Seestern. Gleich wie vorher, amputieren wir ihm einen Arm. Was passiert? Die Leistung wird nach kurzer Zeit wieder vollständig sein oder sogar noch wachsen. Das Unglaubliche ist, dass auch der amputierte Arm wachsen und zu einem weiteren Seestern werden kann.
Ist das Bild klar? Zur Beruhigung der Tierschützer habe ich kein echtes Experiment durchgeführt.
Unser Fokus liegt aber bei der Führung bzw. den Organisationsformen. Zu stark zentralisierte Führungssysteme bieten einerseits sicherlich Vorteile und Effizienz, andererseits können sie in einer Krisensituation sehr empfindlich respektive verwundbar sein. Wenn die Spinne geköpft wird, kollabiert logischerweise das ganze System. Ist die Logistik im Seestern-Modus organisiert oder kann aus einem Spinnen-Modus in einen Seestern-Modus wechseln, steigt die Chance, erfolgreich zu bestehen, massiv an. Diese Überlegungen sollten auf jeder Stufe der Logistik gemacht werden. Desto mehr man in die tiefere Stufe geht, umso mehr Seestern-Gedanken braucht man. Ein Seestern kann unschlagbar sein!
Logistik: Präzisierung Militär-Logistik
Es heisst, die Logistik sei immer im Einsatz und sie bringe Leistungen für Wiederholungskurse, für die Schulen, also für den Betrieb der Armee und deren Partner. Ja, es stimmt. Es ist eine immerwährende, grossartige Leistung.

Ich wehre mich dagegen, zu glauben, dass dies in jeder Lage so ist. Das zu denken, wäre purer Dilettantismus, den wir uns nicht erlauben können. Jede Lage und jede Situation fordert vom Militär-Logistiker die Entscheidung, womöglich neue Wege einzuschlagen. Wenn aber die Logistik so wichtig ist, wieso hat sie dann Mühe, sich selber effizient und effektiv zu schützen (Konvoi, Ausrüstung)? Warum ist man beispielsweise im Glauben, dass die Logistiker aktuell keine Splitterschutzwesten brauchen? … Wenn anderen Truppen im gleichen Raum diesen Schutz als ein Muss einstufen? Die Umweltanalyse, das Umfeld und die Realität zeigen uns andere Bilder. Um jemanden wichtigeren als mich selbst zu zitieren: „Wir machen Militär.“ Gut, dann setzen wir doch alles daran, auch die Militärlogistik in jeder Lage konsequenter zu machen.
Resilienz und Antifragilität: Was soll das wieder sein
Zwei weitere Begriffe, und zwar Resilienz und Antifragilität, werden wir nun unter die Lupe nehmen. Resilienz ist die Fähigkeit, ein System oder eine Person aufgrund eines Ereignisses oder einer Situation wieder in eine Startposition zu bringen. Wenn dies nicht möglich ist, schafft man trotzdem eine gewisse Stabilität und Funktionalität, um diese wieder zu erreichen. Antifragilität ist die Fähigkeit, ein System aufgrund eines Ereignisses oder einer Situation und dank seiner Lernfähigkeit und vermehrten Flexibilität zu verbessern bzw. zu stärken.
Somit sollten wir nachdenken, inwiefern unser System oder unsere Mitarbeiter fähig sind, aus einer unangenehmen Situation rasch den Courant wieder normal zu stellen (Resilienzgrad). Inwiefern sind wir in der Lage, aus dem Chaos einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Organisation oder der Mitarbeiter zu gewährleisten? Resilienz und Antifragilität brauchen ein fähiges Lernumfeld. Die psychische Stärke – eben durch die Fähigkeit der Resilienz und der Antifragilität dargestellt – ist ähnlich wie die physische Stärke trainierbar (ASMZ) Denjenigen, welche nach dieser sicherlich kompakten und leider nicht ausreichenden Ausführung bereits in den Rechtsfertigungsmodus eingetreten sind, möchte ich eine tolle Lektüre empfehlen, nämlich die „Mäuse-Strategie“. Was ist das? Google kann Ihnen helfen. Zwei Mäuse essen täglich im selben Raum Käse. Als kein Käse mehr übrig ist, bleibt eine Maus in der Hoffnung, dass dieser wieder gefüllt wird, im Raum. Die zweite Maus verlässt den Raum und versucht, einen neuen, vollen Raum zu finden.
Die Mäuse-Strategie: Führungskräfte müssen bewusst sein
Die Militärlogistik ist in einem vielfältigen Umfeld eingebettet, nämlich in das zivile Umfeld der Logistikbasis der Armee sowie ziviler Partner und in das der Truppe. Hier sollte die Frage nach dem Resilienz- und Antifragilitätsgrad auch die Zivilen beunruhigen. Nur als Gesamtsystem haben wir gute Chancen, resilient und antifragil zu sein. Weiter ist es auch nicht verboten, über unsere innere Führungsfähigkeit zu reflektieren. Wieviel Spinne bzw. wieviel Sternfisch steckt in unseren Führungsqualitäten bzw. unseren Strukturen? Die Logistik heute funktioniert auch ohne Sturmgewehr! (Ooops! wiederum unser Logistikteufel)

Die Frage, ob die Militärlogistik auch bei ausserordentlichen Ereignissen in allen Ebenen auf Anhieb einwandfreie Leistung erbringen kann, bleibt hier offen. Eines ist aber sicher, wir alle unangenehme Konsequenzen miterleben, wenn in die Führungsebenen nicht in der Lage ist, innovativ, flexibel und unkonventionell zu agieren. In den weisen Worten Buddhas finden wir einen ersten Grund, definitiv unseren Raum zu verlassen: „Die Veränderung ist nicht schmerzhaft, nur der Widerstand gegen die Veränderung ist schmerzhaft.“ Ich weiss, wovon ich spreche.
Fazit: Eine Welt komplexer denn je
Wir leben immer mehr in einer globalisierten, multikulturellen Welt. Diese Welt ist dynamischer und komplexer denn je. Die VUCA-Welt ist ein gelungener Versuch, die aktuelle Lage einzurahmen. Organisationen, Mitarbeiter und Führungskräfte aller Ebenen haben der VUCA-Welt Rechnung zu tragen. Diese Welt ist und wird stark durch die Mega-Trends geprägt. Unser Bestehen wird durch unsere Fähigkeiten ambivalent, wenn wir zwischen der SSEE- und der VUCA-Welt interagieren. Menschen brauchen Sicherheit und Anhaltspunkte. Die SSEE-Welt könnte unser sicherer Hafen sein und der Ozean (das Unerwartete) könnte durch die VUCA-Welt dargestellt werden.
Punkto Struktur sind weitere Überlegungen, wie viele Spinnen bzw. Seesterne es in uns oder in unserer Organisation gibt, viel wert sein. Desto mehr wir in die Tiefe der Organisation (oder Prozesse) gehen, umso mehr Seestern-Fähigkeiten brauchen wir. Bezüglich der Menschengenerationen müssen vor allem Führungskräfte wahrnehmen, dass verschiedene Menschen verschiedene Bedürfnisse mitbringen. Menschen in Generationen einzuordnen, eher nach deren Eigenschaften als nach dem Geburtsjahr, verstärkt das Verständnis und erhöht den Führungserfolg. Alle Mitarbeiter gemäss der eigenen „Weltvorstellung“ gleich zu behandeln, führt zur Niederlage.
Die Militärlogistik ist eine von vielen Organisationen, die unbedingt über seine Strukturen und Führungsfähigkeiten reflektieren muss und soll. Wir sprechen nun über den Resilienz- bzw. Antifragilitätsgrad der Organisation und der Führungskräfte. Genau zu wissen, wo wir stehen, wird uns erlauben, konkrete Massnahmen zu treffen. Resilienz- und Antifragilitätsgrad sind nicht von heute auf morgen aufrufbar. Sie brauchen einen soliden Nährboden, eine Fehlerkultur, Vertrauenskultur, Sinnvermittlung und kontinuierliches Einexerzieren, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Dieser Artikel ist auch auf der Armee-Logistik (Ausgabe April 2016 – Nr. 4, S. 3-5) zu lesen.
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Weitere Artikel über VUCA-Welt:
Weitführende Literatur
Amann, Ella, Gabriele, und Frank Alkenbrecher. Das Sowohl-als-auch-Prinzip Resilienz: Mit Sicherheit stark durch die Krise. Berlin: Pro Business, 2014.
Brafman, Ori, und Rod A Beckstrom. Senza leader: da Internet ad Al Qaeda : il potere segreto delle organizzazioni a rete. [s.l.]: Etas, 2007.
Hettl, Matthias K. «VUCA – Gestiegene Anforderungen an Führungskräfte». Führung Kompakt, Januar 2016.
«In 5 Jahren sind Roboter im Spital-Alltag normal». 20 Minuten, 10. Februar 2016. http://www.20min.ch/schweiz/basel/story/10870855.
Johnson, Spencer, Gaby Turner, und Ariston. Die Mäuse-Strategie für Manager (Jubiläums-Ausgabe) Veränderungen erfolgreich begegnen. München: Ariston, 2015.
May, Charles, und Jayne May. Are You VUCA Ready? 1. Aufl. www.vucaready.com, 2014.
Niederhauser Madlaina, Huber Caroline, Annen Hubert, Der Einfluss von Resilienz auf die militärische Leistung. Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift (ASMZ), 03/2016. S. 48-49.
Scholz, Christian. Generation Z: Wie sie tickt, was sie verändert und warum sie uns alle ansteckt. Weinheim: Wiley-VCH, 2014.