Was brauchen die Stäbe in einer VUCA-Welt, mehr Spinnen oder mehr Seesterne?

Das ist ein publizierter Beitrag für die grösste schweizerische Militärzeitschrift der Schweiz (Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift (ASMZ), Oktober 2016, No 10, S. 32-35)
(Weitere Beiträge von mir hier)

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Täglich bekommen wir Terabytes an Informationen. Was heute Gültigkeit hat, ist morgen obsolet. Entscheiden ist Chefsache. Alleine zu entscheiden ist beinahe eine Art Harakiri. Aber welche Rolle nehmen die Stabsoffiziere im heutigen Umfeld ein – die der Spinne oder die des unauffälligen Seesterns? Die Fähigkeit, resilient und antifragil zu sein, ist das Erfolgsrezept. Führungskräfte, die nicht aus der Komfortzone hinausgehen, sind blind und gefährlich. Nehmen Sie sich Zeit, darüber nachzudenken…

Die Welt sowie unser Dasein sind ständig in Marschbereitschaft. Das Ziel ist meistens unbekannt. Selbst wenn es bekannt ist, kann es sich plötzlich ändern. Erstaunlich ist nur, dass die meisten Stäbe und die dazugehörigen Kader diesen Veränderungszwang nicht verstehen oder wahrnehmen (wollen). Es gibt und wird immer Organisation und Leute geben, die ihre Komfortzone nur unter Zwang verlassen. Das kann zum Untergang der Organisationen, die die Anzeichen der Zukunft nicht richtig interpretieren, führen. Charles und Jayne May besagten, dass „In the VUCA World flexibility is far more necessary than control“[1]. Vorab ein wichtiger Punkt: Das Militär hat alle Mittel, um in dieser Welt bestehen zu können! Die Herausforderung besteht darin, die Flexibilität der Vorgesetzten zu schulen. Das Reglement Führung und Stabsorganisation der Armee 17, Ziffer 5 beschreibt, dass „Auftrag, Lage, Führungsstufe und Kommandant bestimmen, wie das in diesem Reglement Beschriebene situationsbezogen anzuwenden ist“.

Die VUCA-Welt[2] ist real. Nur blinde Führungskräfte sehen das nicht!

Wenn wir uns nicht blind durch die zahlreichen Informationen bewegen, stellen wir fest, dass die Zukunft durch vier Mega-Trends geprägt ist. Erstens sind das die Mega-Citys, womit die zunehmende Urbanisierung, die Konzentration der Bevölkerung und die Vertikalisierung der urbanen Gebiete gemeint sind. Zweitens ist es die Demographie mit der Alterung der Bevölkerung. Drittens die Globalisierung der Gesellschaft und die Technologisierung (auch Industrie 4.0 genannt), welche die Arbeitswelt dramatisch verändern wird, z.B. durch Ersetzen der Menschen durch Roboter und die Schaffung neuer Jobs.[3] Viertens ist das Zusammenwirken der verschiedenen Generationen (Baby-Bommer, Generation X, Y und neu Z), was zu Problemen führen kann, wenn die Führungskräfte abgeneigt sind, sich um die verschiedenen Bedürfnisse und Erwartungen zu kümmern. Eine Vertiefung in Bezug auf die Bedeutung der Generationen ist für alle Führungskräfte unerlässlich und empfehlenswert.[4]

Der VUCA-Begriff stammt aus den USA der 1990er Jahre und wurde zuerst vom Militär verwendet.[5] Später wurde der Begriff von der Wirtschaft adaptiert. Erst in den letzten Jahren wurde  er in der Schweiz im militärischen Kontext verwendet.

Laut Dr. Matthias Hetti haben die Leistungsanforderungen „in allen Bereichen zugenommen. (…) Die Komplexität ihrer einzelnen Aufgaben und Projekte ist weiter angestiegen und die Kommunikationsschnittstellen haben zugenommen.“[6]

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Abbildung 1: Führung Kompakt, Ausgabe 1 | Januar 2016

In dieser komplexen Welt sind Organisation und insbesondere auch die Stabsoffiziere noch mehr gefordert, „flexibler zu reagieren und sich schneller an veränderte Umstände anzupassen.”[7] Um in dieser vielschichtigen Welt weiterzubestehen, müssen Stäbe einiges leisten. Ein Aspekt ist dabei, eine ehrliche und zielführende Vertrauenskultur zu pflegen, und zwar eine Vertrauenskultur, in der jeder Kader seine Leistungen zugunsten des ganzen Stabs ausrichtet und Fehler der Organisation dazu dienen, besser zu werden, und nicht Betroffene zu erniedrigen.

Gefragt sind auch eine klare Vision und eine klare Richtung (keine hochglänzende patinierte Broschüre, sondern Worte und Taten). Visionen müssen täglich gelebt werden. Führungskräfte zeichnen sich als wahre Beispiele aus. Führungskräfte sind nicht fehlerfrei. Sie müssen lernen, den Untergebenen aktiv zuzuhören und Empathie zu zeigen. Angehörige der Armee (unabhängig von Grad und Funktion) sind keine Matrikelnummern, denn jeder Soldat hat eine individuelle Geschichte. Als ehrliche und fordernde Leader gehen Führungskräfte voran und vermitteln klare Botschaften. Sie sind in der Lage, die Komplexität zugunsten der Untergebenen zu reduzieren, ohne dabei oberflächlich zu werden. Schlussendlich sollte jeder Stab, jede Führungskraft und jeder Stabsoffizier agieren, probieren, Erfahrungen sammeln und auch Fehler machen dürfen. Dazu braucht es eine ausgeprägte Vertrauenskultur.

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Abbildung 2: Führung Kompakt, Ausgabe 1 | Januar 2016

Wir haben festgestellt, dass die VUCA-Welt verschiedene Herausforderung mit sich bringt. Wir haben auch eine mögliche Antwort erhalten, wie man in der modernen volatilen Welt mit Erfolg bestehen kann. Der Mensch braucht aber trotzdem einen sicheren Hafen und/oder Anhaltspunkte. Das sind Voraussetzungen, durch die er sich sicher fühlen und auf die nächste Herausforderung vorbereiten kann.

Spinne und Seestern: Wieviel von den Eigenschaften steckt in uns

Was haben eine Spinne und ein Seestern[8] mit Führung und Organisation zu tun? Lassen Sie mich hierzu ein paar Worte investieren. Später werden Sie auch merken, welche Wechselbeziehung mit den Militärstäben (gilt aber auch für jede zivile Organisation) entsteht.

Nehmen wir eine Spinne und amputieren ihr ein Bein (natürlich nur in Gedanken). Sehr wahrscheinlich wird sie uns dafür nicht lieben. Sie wird Schmerzen haben (kann ich mir vorstellen), aber weitermarschieren (eher langsamer). Also wird sie keine 100%ige Leistung erbringen können. Unser Experiment geht weiter. Nun enthaupten wir sie. Was passiert? Klar, sie erbringt gar keine Leistung mehr. Nun nehmen wir einen Seestern. Gleich wie vorher, amputieren wir ihm einen Arm. Was passiert? Die Leistung wird nach kurzer Zeit wieder vollständig sein oder sogar noch wachsen. Das Unglaubliche ist, dass auch der amputierte Arm wachsen und zu einem weiteren Seestern werden kann.

Unser Fokus liegt aber bei der Führung bzw. den Organisationsformen. Zentralisierte Führungssysteme bieten einerseits Vorteile und Effizienz, andererseits können sie in einer Krisensituation sehr empfindlich respektive verwundbar sein. Im Gegensatz dazu sind dezentralisierte Führungssysteme – also solche im „Seestern-Modus“ – weit weniger anfällig auf Störungen. Ist der Stab im Seestern-Modus organisiert oder kann aus einem Spinnen-Modus in einen Seestern-Modus wechseln, steigt die Chance, erfolgreich zu bestehen, massiv an. Diese Überlegungen sollten auf jeder Stufe gemacht werden. Je tiefer die Hierarchiestufe, um so wichtiger ist der dezentralisierte Seestern-Gedanke. Ein Seestern kann unschlagbar sein!

Stäbe: Der Weg zum fruchtbaren Boden

Alle militärischen Stäbe weisen eine Besonderheit auf: Die häufigen Funktionswechsel. Betroffen davon sind die Kohäsion, der Wissenserhalt, der Wissenstransfer und die Kultur der Stäbe. Jährlich wechselt fast ein Drittel der Bestände. Somit müssen die Funktionsträger einen erneuten Beginn erleben. Ein anderer unterschätzter Aspekt ist der Erhalt der Erfahrung. Neues Blut ist sicherlich ein positiver Aspekt für die Innovation oder die Aktualisierung der Kompetenzen, doch wenn die Erfahrungsperiode durch häufige Funktionswechsel auf wenige Diensttage eingegrenzt wird, kann dies einen Wissensverlust für die Gesamtorganisation verursachen.

Obwohl ich Berufsoffizier bin, bevorzuge ich Stäbe, in denen die Funktionsträger Milizoffiziere sind. Ich würde ein System gut heissen, in dem Wissen respektive Know-how durch punktuelle Wissensweitergabe (bezüglich Neuerungen) durch einen Pool (z.B. vom Berufsoffizieren) sichergestellt wäre. Das ist nur ein Ansatz. Wichtig für unsere Überlegung ist die Notwendigkeit, das Wissen bzw. den Wissenstransfer zu erläutern. Die Reduktion der Diensttage und die technologische Entwicklung haben die Notwendigkeit meiner Bedenken bestätigt.

Wir haben vorher gesehen, wie wichtig unsere militärische Aufgabe ist um in einer VUCA-Welt erfolgreich arbeiten zu können. Ein weiterer Aspekt ist das Arbeitsumfeld in der normalen Lage und während einer Ausnahmesituation. Wir müssen beide Aspekte pflegen. Pflegen heisst, unseren Führungsstil in jeder dieser Situationen entsprechend anzupassen. Es kann nicht sein, dass wir permanent den Krisenfall üben. Beide Systeme weisen Vor- bzw. Nachteile auf. In Krisensituationen, in denen wir permanent unter Zeitdruck sind und wir rasch handeln müssen, haben wir keine Zeit für Workshops, kooperative Führungsstile, Feedback usw. In einer normalen Situation ist ein solcher Führungsstil nicht erwünscht. In der normalen Lage sind Innovation und das Eintrainieren von Resilienz und Antifragilität ein fruchtbarer Nährboden.

Resilienz und Antifragilität: Was soll das wieder sein?

Resilienz ist die Fähigkeit, ein System oder eine Person aufgrund eines Ereignisses oder einer Situation wieder in eine Startposition zu bringen. Wenn dies nicht möglich ist, schafft man trotzdem eine gewisse Stabilität und Funktionalität, um diese wieder zu erreichen. Antifragilität ist die Fähigkeit, ein System aufgrund eines Ereignisses oder einer Situation und dank seiner Lernfähigkeit und vermehrten Flexibilität zu verbessern bzw. zu stärken.

Inwiefern sind unser System oder unsere Mitarbeiter fähig, aus einer Ausnahmesituation wieder in eine normale Situation zurückzukehren (Resilienzgrad)? Inwiefern sind wir in der Lage, aus dem Chaos einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Organisation oder der Mitarbeiter zu gewährleisten? Resilienz und Antifragilität brauchen ein fähiges Lernumfeld. Die psychische Stärke, wie sie die Fähigkeit der Resilienz und der Antifragilität darstellt, ist ähnlich wie die physische Stärke trainierbar.[9] Denjenigen, welche nach dieser sicherlich kompakten und leider nicht ausreichenden Ausführung bereits in den Rechtsfertigungsmodus eingetreten sind, möchte ich eine tolle Lektüre empfehlen, nämlich die „Mäuse-Strategie“[10].

Jeder Stabsoffizier ist in einem vielfältigen Umfeld eingebettet, nämlich in das zivile Umfeld, das national oder international geprägt ist. Dazu leistet er auch Militärdienst. Hier sollen die Führungskräfte die Frage nach dem Resilienz- und Antifragilitätsgrad unbedingt berücksichtigen. Nur als Gesamtsystem haben wir gute Chancen, resilient und antifragil zu sein. Weiter ist es auch nicht verboten, über unsere innere Führungsfähigkeit zu reflektieren. Wieviel Spinne bzw. wieviel Sternfisch steckt in unseren Führungsqualitäten bzw. unseren Strukturen?

Die Frage, ob die Stäbe auch bei ausserordentlichen Ereignissen auf allen Ebenen auf Anhieb einwandfreie Leistung erbringen, bleibt hier offen. Eines ist aber sicher, wir werden alle unangenehme Konsequenzen miterleben, wenn  die Führungsebene nicht in der Lage ist, innovativ, flexibel und unkonventionell zu agieren.

Fazit: Eine Welt komplexer denn je

Wir leben immer mehr in einer globalisierten, multikulturellen Welt. Diese Welt ist dynamischer und komplexer denn je. Die VUCA-Welt ist ein gelungener Versuch, das aktuelle Umfeld zu beschreiben. Organisationen, Mitarbeiter und Führungskräfte aller Ebenen haben der VUCA-Welt Rechnung zu tragen. Diese Welt wird stark durch die Mega-Trends geprägt.

Punkto Struktur sind Überlegungen, wie viele Spinnen bzw. Seesterne es in uns oder in unseren Stäben gibt,  wertvoll. Je mehr wir in die Tiefe der Organisation (oder Prozesse) gehen, desto mehr Seestern-Fähigkeiten brauchen wir. Bezüglich der Generationen müssen Führungskräfte erkennen, dass verschiedene Menschen verschiedene Bedürfnisse mitbringen. Menschen in Einheiten einzuordnen, eher nach deren Eigenschaften als nach dem Geburtsjahr, verstärkt das Verständnis und erhöht den Führungserfolg. Alle Stabsoffiziere gemäss der eigenen „Weltvorstellung“ gleich zu behandeln, führt zur Niederlage.

Jeder Stab ist quasi mit den Organisationen vergleichbar, die unbedingt über ihre Strukturen und Führungsfähigkeiten reflektieren müssen und sollen. Wir sprechen nun über den Resilienz- bzw. Antifragilitätsgrad des Stabes und der Führungskräfte. Genau zu wissen, wo wir stehen, erlaubt uns, konkrete Massnahmen zu treffen. Resilienz- und Antifragilitätsgrad sind nicht von heute auf morgen aufrufbar. Sie brauchen einen soliden Nährboden, eine Fehlerkultur, Vertrauenskultur, Sinnvermittlung und kontinuierliches Einexerzieren, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Weitere Beiträge über die VUCA-Welt

Literatur

Amann, Ella, Gabriele, und Frank Alkenbrecher. Das Sowohl-als-auch-Prinzip Resilienz: Mit Sicherheit stark durch die Krise. Berlin: Pro Business, 2014.

Brafman, Ori, und Rod A Beckstrom. Senza leader: da Internet ad Al Qaeda : il potere segreto delle organizzazioni a rete. [s.l.]: Etas, 2007.

Hettl, Matthias K. «VUCA – Gestiegene Anforderungen an Führungskräfte». Führung Kompakt, Januar 2016.

«In 5 Jahren sind Roboter im Spital-Alltag normal». 20 Minuten, 10. Februar 2016. http://www.20min.ch/schweiz/basel/story/10870855.

Johnson, Spencer, Gaby Turner, und Ariston. Die Mäuse-Strategie für Manager (Jubiläums-Ausgabe) Veränderungen erfolgreich begegnen. München: Ariston, 2015.

May, Charles, und Jayne May. Are You VUCA Ready? 1. Aufl. www.vucaready.com, 2014.

Scholz, Christian. Generation Z: Wie sie tickt, was sie verändert und warum sie uns alle ansteckt. Weinheim: Wiley-VCH, 2014.

Fussnoten

[1] www.vucaready.com

[2] VUCA ist ein Akronym für Volatile, Uncertain, Complex und Ambiguous.

[3] „Einfache Arbeiten an Maschinen, wie Drehen oder Fräsen, können bald komplett von Robotern durchgeführt werden“ In 5 Jahren sind Roboter im Spitalsalltag normal (20 Minuten, 10. Februar 2016), gefunden unter http://www.20min.ch/schweiz/basel/story/10870855.

[4] Christian Scholz, Generation Z: Wie sie tickt, was sie verändert und warum sie uns alle ansteckt (Weinheim: Wiley-VCH, 2014).

[5] Judith Hicks Stiehm, “The U.S. Army War College: Military Education in a Democracy“, Temple University Press, 2002, p. 6

[6] Matthias K. Hettl, VUCA – Gestiegene Anforderungen an Führungskräfte, Führung Kompakt, Januar 2016.

[7] Ebd.

[8] Ori Brafman und Rod A Beckstrom, Senza leader: da Internet ad Al Qaeda : il potere segreto delle organizzazioni a rete ([s.l.]: Etas, 2007).

[9] Niederhauser Madlaina, Huber Caroline, Annen Hubert, Der Einfluss von Resilienz auf die militärische Leistung. Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift (ASMZ), 03/2016. S. 48-49.

[10] Spencer Johnson, Gaby Turner, und Ariston, Die Mäuse-Strategie für Manager (Jubiläums-Ausgabe) Veränderungen erfolgreich begegnen (München: Ariston, 2015).

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