Das gute Benehmen und das Fast Food

Ein Interview mit Cristian Moro, Verhaltenstrainer (August 2014).

Die groben Manieren. Die Verwandlung. Auf der Suche nach dem Offizier und Gentleman. Die Etikette ist ein Relikt der Vergangenheit. Es gibt keinen Platz mehr für gute Manieren. Die Etikette: Spiegel unserer Gesellschaft. Die Formen der Höflichkeit sind Teil des Betragens.

Offizier und Gentleman

Es sind nicht die Fehler, die Anstoß erregen. Es ist vielmehr die wachsende Überzeugung, dass gute Umgangsformen antiquiert sind und ihr Erlernen nicht lohnt, die bedenklich ist (Piero Ottone)

Es war im Jahr 1982, als der Film „Ein Offizier und Gentleman“ mit einem jungen Richard Gere und Debra Winger herauskam. „Ein Offizier und Gentleman„. Ein Kultfilm. Der Titel hat mich fasziniert, aber ich konnte seine Bedeutung noch nicht voll erfassen. Fünf Jahre später trat ich in die Rekrutenschule ein. Am 27. Oktober 1989 wurde ich zum Leutnant befördert. Die (militärische) Erziehung, Respekt und Opfer waren nicht nur Worte, die ich während der militärischen Ausbildung gelernt habe. Die meisten dieser Werte hatte ich schon in meiner Familie, bei den Pfadfindern und von der Gesellschaft im Allgemeinen gelernt. Die Etikette war kein abstrakter Begriff. Aber die neue Erfahrung, ein Armee-Offizier zu sein, führte mich auf neue Wege auf dem Feld des Benehmens. Offizier sein bedeutete auch, ein würdevolles Benehmen an den Tag zu legen und gleichzeitig eine in unserem Land verankerte Institution zu repräsentieren. Urteilen wir nicht täglich über Politiker, mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten, verschiedene Personen? Beurteilen wir nicht Freunde, Verwandte, Bekannte, Arbeitskollegen? Derjenige, der noch nie geurteilt hat, hebe jetzt die Hand! Je höher man auf der Leiter der Verantwortlichkeit emporsteigt, desto eher unterliegt unser Verhalten Urteilen anderer. Klar!

Was gibt es Schlimmeres, als zu sehen, wie er mir nach dem Abendessen ein Haar herausreißt und es am Tisch als Zahnseide benutzt?“ (Meg Ryan aus dem Film Harry und Sally)

Während der Offiziersschule erhielt ich eine kleine Broschüre mit dem Titel „Kleines Brevier der Umgangsformen“. Noch heute erinnere ich mich, dass wir für jede Mahlzeit buchstäblich ins Zimmer rennen und die Ausgangsuniform anziehen mussten. Zu jedem Mittagessen. Zu jedem Abendessen. Auch zum Frühstück. Die Jahre vergingen. Im Jahr 1997, zu Beginn der Militärakademie, behauptete unser Klassensprecher, dass es sich für einen Offizier nicht gehören würde, in ein Fastfood-Restaurant zu gehen. Diese romantische Version weicht den Veränderungen, die sich zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zugetragen haben. Das Bewusstsein für gutes Benehmen ist wie eine Sprache, wie eine Kultur, wie eine Gesellschaft; es entwickelt sich! Aber auch heute noch sind sie da und existieren, die guten Manieren. Ich wünsche mir sehr, dass wir auch in unserem Milizheer wieder aktiver über gutes Benehmen sprechen. Der Offizier ist nicht nur ein Anführer und Verantwortlicher, sondern auch eine Person, die eine Nachricht übermittelt. Neben technischen und analytischen Fähigkeiten und Führungsqualitäten muss jeder Offizier auch eine gute Portion an gutem Benehmen aufweisen!

Gute Manieren sind das Gegenteil von Kleidung: Je mehr sie benutzt werden, desto mehr schätzt man sie und werden sie geschätzt“ (Hans Albrecht Moser – Das Gästebuch, Frauenfeld 1935)

Das Interview

Geben wir nun jedoch das Wort an Cristian Moro, Milizoffizier und selbständiger Verhaltenstrainer, der uns ein paar Fragen in Bezug auf den Stand der Etikette im Milizheer unseres Landes beantworten wird.

Rappazzo: Unsere (militärische) Gesellschaft hat im Laufe der Zeit die Bedeutung der Anstandsregeln reduziert. Die Ausbildung bleibt dem einzelnen Befehlshaber überlassen und die Armee hat das kleine Brevier der Umgangsformen aus den offiziellen Unterlagen entfernt. Die Kantinen für Massen tragen nur wenig zum Stil bei. Ist das das Ende der militärischen Etikette?

Moro: Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es das Ende der militärischen Etikette ist. Ich weiß zwar nicht, aus welchen Gründen das kleine Brevier der Umgangsformen entfernt worden ist, doch ist das von der Schweizerischen Armee an die jungen Kader ausgesandte Signal negativ.

Ich finde es bedauerlich, dass man im Rahmen der „Führungsausbildung“ keinerlei Möglichkeit gefunden hat, diesen Unterrichtsblock zu integrieren. Es ist meiner Meinung nach nicht richtig, diese Verantwortung an die Befehlshaber zu delegieren. Die Inhalte, Ziele und Bildung sind nicht gut aufeinander abgestimmt und die Menschen, die all dieses vermitteln, beschränken sich darauf  – gemäß der mir berichteten Erfahrungen – Regeln zu präsentieren und vernachlässigen dabei die Tatsache, dass ein korrektes und wohlerzogenes Verhalten eine Frage des Charakters und der persönlichen Werte ist. Etliche Armeen der Welt (wie zum Beispiel die englische) haben eine fundierte Ausbildung. Die Ergebnisse sind offensichtlich, wenn diese Offiziere sich der Öffentlichkeit präsentieren. In Bezug auf die hohen Schweizer Offiziere stechen leider Unsicherheiten, Irrtümer und Unwissenheit über das Thema hervor. Die Formen der Höflichkeit sind eine Fertigkeit, und müssen – wie alle Fähigkeiten – vermittelt, geübt und vertieft werden.

Rappazzo: Lassen Sie uns nun über Führung und gute Manieren sprechen. Was sind,  wenn überhaupt, die Gemeinsamkeiten dieser beiden Begriffe?

Moro: Um in der heutigen Zeit ein Team zu leiten, muss man über Führungsqualitäten und soziale Kompetenz verfügen. Gute Manieren sind Teil der sozialen Fähigkeiten und unerlässlich für jede Person, die auf der zwischenmenschlichen und technischen Ebene glaubwürdig für das Team sein will. Unhöfliche oder sogar flegelhafte Vorgesetzte genießen keinen Respekt und Ansehen in ihrem Team. Es reagiert mit Verachtung der Person und dies reduziert die Motivation und Produktivität der Mitarbeiter.

Man kann eine entschiedene und gezielte Führung unter Berücksichtigung der persönlichen Integrität ausüben. Der Respekt für die Person muss auf greifbare Weise gezeigt werden und drückt sich am besten durch aufrichtig angewendete Formen der Höflichkeit aus. Gute Manieren im Management (also in der Führung) sind ein unabdingbares Prinzip, welches die Wertschätzung der Mitarbeiter steigert, eine angenehme Arbeitsumgebung schafft und für gegenseitigen Respekt sorgt. Dies alles gereicht zum Vorteil von allen.

Rappazzo: Die Armee ist immer noch eine Schmiede junger Führungskräfte, die womöglich in naher Zukunft auch im zivilen Umfeld Führungspositionen bekleiden könnten. Was sind die Vorteile einer Schulung in Bezug auf das Benehmen während der ersten Erfahrungen mit Leitung?

Moro: Es gibt zahlreiche Vorteile. Vor allem können Sie jungen Menschen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen, ein Konzept oder einen Lebensentwurf vermitteln. Diese Ausbildung dient daher als Investition in die zukünftigen Generationen.

Zweitens ermöglicht es jungen Menschen, eine „neue“ Welt zu entdecken und spezifische Fragen zu stellen. In den besten Fällen sind die professionellen Führungskräfte, die sie unterweisen, positive Beispiele und fungieren daher als „Modell“ für die Anwärter.

Drittens: Die Formen der Höflichkeit sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Unternehmenskultur. In diesen Bereich zu investieren, bedeutet, unauslöschliche Spuren bei den Personen zu hinterlassen. Diese Menschen werden – sobald sie in die zivile Welt zurückgekehrt sind – diese Werte in die Gesellschaft tragen. Letzter Punkt: Indem diese Themen in der Schweizer Armee gelehrt werden, zeigt man die Bereitschaft, zur individuellen Entwicklung jeder einzelnen Person beitragen zu wollen – welches zum Wohle der ganzen Gemeinschaft ist.

Rappazzo: Nun eine kleine Frage nach der Symbolik. Einst hatte der Offizier einen Ort, der ihn von den anderen abhob: er hatte die Offiziersmesse. Einst gab es die Ordonnanzoffiziere. Wahrscheinlich noch mehr. Heute bleibt lediglich die Verantwortung. Nur noch Pflichten und keine Privilegien mehr?

Moro: Ich bin der Meinung, dass Menschen, die Verantwortung tragen, auch Privilegien besitzen dürfen. Diese Privilegien „kompensieren“ in der Tat die zusätzliche Arbeit, welche die Führungskräfte übernehmen und machen den Unterschied in der Funktion und Verantwortung deutlich. In der Armee hat der Verlust der Messen und Ordonnanzoffiziere zu einem Bruch mit der Vergangenheit und den Traditionen geführt. Ich vermute, dass diese Abschaffung Ursache für die Bereitschaft ist, sich den politischen Anforderungen und – meiner Meinung nach – einem Trend des „neuen Managements“ anzupassen, der Hierarchien beseitigen will. Meines Erachtens nach handelt es sich hierbei um einen Fehler und eine Illusion, wobei negative Signale an die Mitarbeiter ausgesendet werden und es – den Personen in Führungspositionen – nicht mehr gestattet ist, sich in einen Raum zurückziehen zu können, wo man sich „interparis“ und ohne Störung auseinandersetzen kann. Unsere Gesellschaft ist voll von Symbolen und diese abschaffen zu wollen, ist ein Fehler, da Symbole einen starken Charakter haben und immer einen Wunsch repräsentieren: den Wunsch (innerhalb einer Gruppe) Werte aufzuzeigen – wie im Falle der Etikette.

Rappazzo: Gestern. Heute. Was sind die wichtigsten Unterschiede bei der Anwendung der Etikette? Wie hat sich die Gesellschaft verändert? Was unterscheidet einen jungen Menschen von heute vom jungen Menschen von gestern? Man öffnet die Autotür, um seine Freundin einsteigen zu lassen…man spaziert Arm in Arm…man ist der Freundin dabei behilflich, sich an den Tisch zu setzen…Sind dies noch immer Verhaltensweisen, die im Trend liegen?

Moro: Um diese Frage zu beantworten, muss man auf den Zweck der Formen der Höflichkeit eingehen. Die Formen der Höflichkeit dienen dazu, eine Atmosphäre der gegenseitigen Achtung zu schaffen, in der Menschen sich begegnen und positive Gespräche im vollen Respekt für die kulturellen, religiösen oder politischen Unterschiede pflegen können. Diese Regeln definieren darüber hinaus auch die angemessenen Reaktionen, die in allen Situationen adaptiert werden müssen: sowohl in Bezug auf uns selbst, als auch in Bezug auf andere.

Die meisten Anstandsregeln stammen aus dem Mittelalter. Die uns umgebende Gesellschaft verändert sich und demzufolge werden neue Regeln eingeführt. Heutzutage führt ein egoistischer und hedonistischer Trend dazu, dass wir unsensibel für eventuelle Bedürfnisse der Menschen werden, die uns umgeben: man telefoniert – meist mit lauter Stimme – an jedem beliebigen Ort und zwingt alle Umstehenden dazu, unsere Unterhaltung mit anzuhören. Wir vergessen oft, dass unsere persönliche Freiheit dort endet,  wo wir (gegebenenfalls) jemanden verärgern, der in unserer Nähe ist. Aus diesem Grund gibt es mehr und mehr Regeln. Diesen Trend (die Zunahme von Regeln) kann man auch in anderen Bereichen verzeichnen.

Wie hat sich die Gesellschaft verändert? Ich stelle fest, dass eine Person überaus tolerant ist, wenn sie die Formen der Höflichkeit nicht anwendet. Paradoxerweise ist die gleiche Person definitiv nicht tolerant, wenn sie sich in Situationen befindet, wo sie ihrer Meinung nach nicht respektiert und „richtig“ behandelt wird. Es ist erstaunlich, dass diese Formen (die oft über 400 Jahre alt sind) so viel Einfluss bis in die heutige Zeit haben. Wenn man über gute Formen der Höflichkeit verfügt, führt dieses stets zu einem positiven Urteil und auf dem Arbeitsmarkt sind sie zu einem wahren „Unique selling proposition (USP)“ geworden. Das USP oder – wie in deutsch – „Alleinstellungsmerkmal“ ist ein theoretisches Modell der Werbefunktion von Rosser Reeves aus den vierziger Jahren.

Was sind die Unterschiede zwischen den jungen Leuten von heute und von gestern? Die jungen Menschen von heute sind in Bezug auf die Formen der Höflichkeit sehr unsicher. Es besteht ein Mangel an positiven Beispielen, die in den Medien dargestellt werden. Das überrascht mich nicht, weil ein korrektes Benehmen für die Medienwelt absolut uninteressant ist:  es gibt keine Schlagzeilen und demnach verkauft man keine Exemplare. Und doch sind gerade die jungen Menschen sehr offen für diese Formen, entdecken die mit ihrer Anwendung verbundenen Vorteile: persönlicher Nutzen und Vorteile auf der Gruppenebene.

Im Hinblick auf die Rolle der Frauen in den Formen der Höflichkeit stelle ich mit Bedauern fest, dass die Emanzipation viele Frauen zu dem Glauben gebracht hat, dass ihre Vorzugsbehandlung dazu dient, ihr Schutzbedürfnis – und demnach ihre Schwäche – zu unterstreichen. Nichts davon ist wahr. Die bevorzugte Behandlung von Frauen ist ein Zeichen von Respekt für einen Menschen, der eine große Gabe besitzt: Leben zu erzeugen. Die Männer bezeugen mit dieser Geste ihren Respekt gegenüber den Frauen.

Die Formen der Höflichkeit sind daher nicht an einen Trend gebunden. Meiner Meinung nach sind die Formen der Höflichkeit

  • eine Lebensphilosophie.
  • Sie regeln das gesellschaftliche Leben und das Privatleben.
  • Sie sind ein Werkzeug der Führung.
  • Mit ihrer Hilfe kann man sich vor unerwünschten Kontakten schützen.
  • Sie machen das Verhalten einer Person vorhersehbar.
  • Sie erleichtern den zwischenmenschlichen Kontakt.
  • Sie schlagen eine Brücke im Falle von zwischenmenschlichen Unterschieden.
  • Sie geben uns das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein.

Ich wünsche mir sehr, dass die Anstandsregeln immer gegenwärtig und lebendig sein mögen – unabhängig von ihrer Form und ihrem Inhalt. Gutes Benehmen sollte eine Regel für die gesamte Gesellschaft sein. Je höher man in der Hierarchie der Macht, der Verantwortung und der Bekanntheit steht, desto mehr sollten gute Manieren gelebt und vermittelt werden. Also auch in der Armee.

Willst Du Respekt, so zolle Respekt. (Sprichwort – Autor unbekannt)

Ich bedanke mich und hier ein paar

Leseempfehlungen

Vielen Dank an Cristian Moro für die angenehme Diskussion. Im Nachfolgenden nun einige weiterführende Literatur zum Thema „gutes Benehmen“: 

Ritualtheorien – Ein einführendes Handbuch
Autori: Andréa Bellinger, David J. Krieger – ISBN: 978-3-531-16109-9

Das gross Knigge Lexikon Benimm von A-Z
Autrice: Iris Hammelmann – ISBN: 978-3-8174-6640-5

Über den Umgang mit Menschen
Autore: Adolph Freiherr Knigge – ISBN: 978-3-86820-032-4

Si fa non si fa – Le regole del galateo 2.0
Autrice: Barbara Ronchi della Rocca – ISBN: 978-88-6731-129-3

 

 

 

 

 

2 Kommentare zu „Das gute Benehmen und das Fast Food“

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