Die Strategie des Ostens, die Strategie des Westens. Clausewitz und Sun-Tzu. Das Schach und das Weiqi. Das Zentrum der Kraftentfaltung von Clausewitz, die Suche nach der entscheidenden Schlacht. Die Kunst, einen Krieg zu gewinnen, ohne zu kämpfen. Die Perspektiven der Analyse. Myopie und Niederlage.
Ich muss mich wirklich bei Giorgio Cuscito (1) bedanken, der sich in der LIMES Ausgabe vom Oktober 2013 (2) mit einem Thema befasst hat, dass mir besonders am Herzen liegt. Es handelt sich um die Optik des strategischen Verständnisses der Gegenseite. In der gängigen Praxis der strategischen, operativen oder taktischen Analyse ist es üblich, auf die eigenen kulturellen Wurzeln zu verweisen. In unserem Fall ist ein Wahrzeichen des Westens definitiv das Buch „Vom Kriege“ von Clausewitz (3). Einerseits trifft es zu, dass während des Prozesses der Analyse die gegnerischen und eigenen Möglichkeiten, wie Mittel, Personal und Taktik, verglichen werden, andererseits ist es offensichtlich, dass dem kulturellen strategischen gegnerischen Limes zu wenig Beachtung geschenkt wird.
Die Kultur ist die Wurzel und die Grundlage der Strategie. Die historische Entwicklung und das strategische Denken fliesst in die Kultur eines Landes ein. Die strategische Kultur eines Landes kann nur auf ihrer eigenen kulturellen Tradition beruhen, die auf komplexe Weise und unbewusst vorschreibt und die Strategie festlegt.(4)
Den Gegner anhand unseres strategischen Denkens und unserer kulturellen Sicht zu beurteilen bedeutet, das Wesentliche seiner Tat nicht vollständig zu verstehen. Den Gegner bzw. die Gegenseite zu verstehen bedeutet, seine Kultur, seine Wurzeln und sein Vorgehen zu verstehen. Den Gegner zu verstehen ist somit die Fähigkeit, mehr als sein geschriebenes Wort sowie sein Wesen zu verstehen. Den Gegner erfolgreich zu bekämpfen, bedeutet, die eigene Strategie unter Berücksichtigung der festgestellten gegnerischen Limes anzupassen.
Giorgio Cuscito ist einleuchtend, wenn er das Schachspiel mit Clausewitz und das Weiqi mit den orientalischen Gedanken – wobei die bekannteste Persönlichkeit Sun-Tzu ist – vergleicht. Wir lassen uns nun in wenigen Worten die Bedeutung der beiden Spiele erklären, indem ein konkretes Beispiel aus den aktuellen geopolitischen Herausforderungen dargelegt wird.
Im Schach ist das Endziel, den König zu isolieren. Das heisst, jede seiner Bewegungen zu verhindern. Schachmatt! Wir beabsichtigen, den Schwerpunkt der Schlacht zu identifizieren (Cuscito, Seite 122). Einmal identifiziert, geht es darum, die entscheidende Schlacht zu führen. Der gleiche Autor identifiziert auch in der Maxime „Entscheidender Punkt” von General Jomini eine Analogie zwischen den Gedanken von Clausewitz und dem Schachspiel. Das Beispiel ist Napoleon, dessen katastrophaler Russlandfeldzug, bei dem er mehrmals eine entscheidende Schlacht erfolglos suchte, bestens bekannt ist. Der Gegner kannte seine Möglichkeiten, daher führte er statt der Schlacht einen Abnützungskampf. Im heutigen Umfeld können wir als Beispiel für diese Strategie den amerikanischen Grundsatz pivot to Asia nehmen. In der Tat ist die Obama-Regierung daran, ihre Anstrengungen und Ressourcen dort zu konzentrieren, wo die amerikanischen Interessen von strategischer Bedeutung sind. Die angestrebte US-Energie-Unabhängigkeit erlaubt den USA, einen Rücktritt von den Petro-Monarchien sowie ein Rückzug aus dem irakischen und afghanischen Sumpf als mögliches reales Ziel zu haben. Gleichzeitig weiss man, dass Asien eine Region mit starkem wirtschaftlichem Wachstum ist, somit gute Voraussetzungen für die amerikanischen geostrategischen Interessen bietet und somit die US-Konzentration auf diese Region eine mögliche Konsequenz ist (pivot to Asia).
Im Weiqispiel (das ich überhaupt nicht kenne) geht es darum, so viel Platz wie möglich zu besetzen. Zudem geht es darum, auch an mehreren Fronten zu kämpfen, mehrere Schlachten und den Gegner zu studieren. Die Züge von Weiqi sind eng mit den Lehren des Meisters Sun-Tzu aus „Kunst des Krieges” verknüpft (Cuscito, Seite 122). In der Praxis bedeutet es die Integration von mehreren interdisziplinarischen Faktoren, wie Klima, Geographie, Politik, Diplomatie, Spionage und vielem mehr, in den Kampf.
Der wahre Stratege besiegt den Gegner bevor er sich im Kampf engagiert.(5)
In der Tat, das vierte Schlüsselelement aus Sun-Tzus Meisterwerk lautet: „Die beste Strategie, um einen Krieg zu gewinnen, ist sicherzustellen, dass der Feind nicht in der Lage ist, den Kampf zu führen“ (buzhan ersheng). Dies bedeutet nicht nur, den Gegner zu umkreisen, sondern ihm in irgendeiner Weise haushoch überlegen zu sein und die beste Stellung ist diejenige, die einen Konflikt vermeidet oder verhindert (Cuscito, Seite 123). Ein Beispiel für diese Strategie ist die Frage der sezessionistischen Insel von Taiwan. Der militärische Druck ist nur ein Alibi, das ein grösseres, verstecktes Bild verbirgt. China hat Zeit (das gehört zu seiner Kultur), China ist nicht unter Druck. Warum sich in einer Konflikt engagieren, wenn man Schritt für Schritt das gleiche Ergebnis mit anderen Mitteln erreichen kann? Ein Mittel ist die Integration der Finanzmärkte. Aufgrund der wachsenden Integration der Finanzmärkte (und somit einer Zähmung der herrschenden politischen Klasse) sind die Beziehungen ständig verbessert worden. Zusammenarbeit und Abhängigkeit. Die Zeit vergeht langsam, langsam.
Einen unbekannten Gegner anzugreifen, ohne eine vertiefte Kenntnis, kann Angst oder eine falsche Wahrnehmung verursachen. Wenn wir unsere eigenen Kräfte nicht kennen, bedeutet das, den Weg zu einer Niederlage einzuschlagen. Unsere Kräfte kennen und gleichzeitig die Stärke des Gegners nicht kennen, führt möglicherweise auch zu einer Niederlage. Das Wissen über beide Akteure heisst konkret, einen möglichen Sieg zu erlangen. Dies scheint mir der Gedanke von Sun-Tzu zu sein. Ein Konzept, das sowohl das Schach- als auch das Weiqispiel umfasst.
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1) Analista, studioso di geopolitica cinese.
2) L’arte cinese di non combattere alla prova della guerra di Siria. LIMES, Rivista Italiana di Geopolitica, 9 ottobre 2013, pag 117-124.
3) Clausewitz. Della guerra. Oscar classici Mondadori, 2000. ISBN 88-04-43119-9.
4) Li Jijun, Lun zhanlue wenhua (La cultura strategica), Beijing 1998, in LIMES Ottobre 2013, pag 119.
5) Sun-Tzu. L’arte della guerra. Un manuale di strategia militare, filosofia, politica e psicologia scritto 2.500 anni fa. Biblioteca Universale Rizzoli, 1997, pag. 6. ISBN 88-17-15272-2.